Bauwerk des Jahres 2022
Der Architekten- und Ingenieurverein (AIV) Hamburg verleiht E2A und Lichtenstein Landschaftsarchitektur und Stadtplanung den Sonderpreis für Städtebau und Freiflächenplanung für das Wohnquartier Pergolenviertel Hamburg-Nord.
Das Pergolenviertel ist eines der grössten Entwicklungen der letzten Jahrzehnte in Hamburg. Der Entwicklungsplan von E2A/Lichtenstein über die 27 Hektaren lieferte das städtebauliche und architektonische Leitbild für die Realisierung des neuen Wohnquartiers. Der Plan beinhaltet Planungsgrundsätze, welche die unterschiedlichen Interessen aller Akteure addressiert und zu verbinden vermag. Bis voraussichtlich 2025 errichten 6 Baugenossenschaften und 3 Baugemeinschaften 1700 kostengünstige Wohnungen, 3 Kitas, weitere Gemeinschafts- und Vorsorgeeinrichtungen sowie Freiräume und Gärten. Ein Grossteil ist inzwischen realisiert.
Die besondere Qualität des Pergolenviertels ergibt sich aus der Summe aller das Zusammenleben seiner Bewohner bestimmenden Faktoren. Aus anfänglich vollkommen unterschiedlichen Interessen von Kleingärtnern und Stadtplanern führte ein auf offenen Dialog angelegter Prozess zu gegenseitigem Verstehen.
Michael Hein, Architekt, Hamburg, Laudatio Oktober 2023
-> Pergolenviertel Entwicklungplan 2012-2015
-> Laudatio: Matthias Heim, Oktober 2023
->AIV Architekten- und Ingenieurverein Hamburg e.V. - Bauwerk des Jahres 2023
Laudatio Mathias Hein, Freier Architekt in Hamburg
Hamburg, im Oktober 2023
ENDLICH! Mit dem Pergolenviertel gibt es wieder ein Wohnquartier, das mit seiner städtebaulichen, architektonischen, freiräumlichen und sozialen Qualität an die glorreichen Zeiten des Wohnungsbaus unter Fritz Schumacher und Gustav Oelsner anknüpft. In den Jahren zwischen 1919 und 1933 waren in Hamburg wegweisende Wohnquartiere mit tausenden neuen Wohnungen für Arbeiter und Angestellte entstanden: auf der Veddel und auf dem Dulsberg, in Altona-Ottensen, in Barmbek, in der Jarrestadt, in Hamm und in Fuhlsbüttel. Ein Vermächtnis von unschätzbarem Wert, vergleichbar nur mit den zeitgleich entstandenen Großsiedlungen im roten Wien.
Am Beginn der konkreten Planungen für das Pergolenviertel stand ein städtebaulicher Wettbewerb, den das Architekturbüro E2A aus Zürich und die Landschafts- und Stadtplaner Lichtenstein aus Hamburg für sich entscheiden konnten. Die Bezugnahme auf den Hamburger Reformwohnungsbau der 1920er Jahre ist dem aus 26 Einsendungen hervorgegangen Siegerentwurf anzusehen. Das mit „Wohnen in einem Park“ überschriebene Konzept lässt die übergeordneten Planungsgrundsätze für das Pergolenviertel erkennen:
* Großformatige Baukörper in spannungsvoller Anordnung mit maßstabsgerechten Höhen
* Parkartige Grünanlagen im Zusammenspiel mit integrierten Kleingärten
* Identitätsstiftende Quartiersplätze statt Straßen mit KFZ-Stellplätzen und begrünten Restflächen
* Gliederung in öffentliche, halböffentliche und private Freiräume mit fließenden Übergängen
* Verbindende Architektur- und Gestaltungsmerkmale
* Klinkermauerwerk in farblich variierenden Nuancierungen
* Autoarmes Verkehrskonzept mit guter Anbindung an umliegende Angebote des ÖPNV und Vorrang für Fahrrad- und Fußwege
* Integration des Naturschutzes mit Bewahrung oder Verlagerung ökologisch wertvoller Biotope
* Soziale Durchmischung mit Gemeinschafts- und Versorgungseinrichtungen
Den zentralen Gedanken ihres Entwurfs formulierten die Architekten in ihren Erläuterungen so: „Ein Wohnraum von besonderer Qualität entsteht durch die Verweigerung, die bestehende … Grünzone durch ein Raster standardisierter Straßenzüge zu perforieren.“
Die realisierten 1700 Wohnungen werden also in den die Lage des Pergolenviertels prägenden Grünzug zwischen City Nord im Westen und den Barmbeker Wohnquartieren im Osten eingebettet. Dabei spielen auch die weiterhin, wenn auch in reduzierter Anzahl und Größe, in das Pergolenviertel integrierten Kleingärten, von den Planern liebevoll „Obstkisten“ genannt, eine wichtige Rolle. Eine Nachbarschaft ganz anderer Art, fast wie aus einer anderen Zeit, auch für die Kinder des Pergolenviertels: „Klau´n, klau´n, Äppel wollt wi klau´n, ruckzuck über´n Zaun“ statt immer nur Smartphone und Playstation.
Beim Blick auf das Pergolenviertel sehen wir heute ein 24 Hektar großes, durchgrüntes Areal im Wechsel zwischen großvolumigem Geschosswohnungsbau mit Innenhöfen, einem zentralen Quartiersplatz mit anliegenden Treffpunkten und Versorgungseinrichtungen, parkartig angelegte, mit breiten Geh- und Radwegen durchzogene Grünflächen mit Spielplätzen und neu angelegten Kleingärten.
Wie vor hundert Jahren wird die Architektur durch das einheitliche Fassadenmaterial des hartgebrannten Klinkers bestimmt. Nicht nur auf der Schauseite nach Außen, sondern auch in den Innenhöfen. Jeder Wohnblock hat seinen eigenen Farbton, der sich im Norden von graubeige über rotbraun nach ziegelrot im Süden entwickelt. Die Fassaden werden durch Ziegelreliefs zusammen mit den Fensterflächen bandartig horizontal oder nach dem Rahmen-Füllungsprinzip feldweise gegliedert. Fenster und Geländer sind im Pergolenviertel einheitlich profiliert und anthrazitfarben gestrichen. In den Innenhöfen gibt es auskragende Balkone und vorgelagerte Terrassen im Erdgeschoss, nach Außen keine in den öffentlichen Raum vorspringenden Elemente. Loggien und Eingänge liegen hier grundsätzlich vertieft in den Fassaden.
Bei Einhaltung dieser Setzungen können sich die Einzelgebäude mit ihren unterschiedlichen Größen und Programmvorgaben entwickeln. Es entsteht eine Balance zwischen individueller Identität und Einordnung ins Quartier.
Auffälligstes, als Großform in jedem Wohnblock mehrfach wiederkehrendes Gestaltungselement ist der Rundbogen. Er korrespondiert mit den namensgebenden rundbogenförmigen Rankgerüsten über den Wegen im Quartier, den Pergolen. Daher der Name Pergolenviertel. Die Rundbogenöffnungen markieren den Übergang zwischen öffentlichem Außenraum und halböffentlichem Innenhof. Gleichzeitig ermöglichen sie Durchgänge und Abkürzungen und sorgen dafür, dass sich die Bewohner eines Wohnblocks in den Innenhöfen nicht vom Quartier abgeschottet fühlen.
Wohnraum muss bezahlbar sein!
Das soziale Gefüge im Pergolenviertel wurde von Anfang an mitgedacht. Anders als im üblichen Drittelmix wurden die von ausgewählten Bauherren, darunter 6 Baugenossenschaften und 8 Baugemeinschaften, errichteten 1700 Wohneinheiten in 60% geförderte, 27% frei finanzierte Miet- und 13% Eigentumswohnungen aufgeteilt.
Die Saga vermietet 280 geförderte Wohnungen für eine Anfangs-Netto-Kaltmiete von 6,40 Euro/m2.
Außerdem gibt es Wohnungen für psychisch erkrankte Menschen, Menschen mit geistiger Behinderung, für betreutes Wohnen, für Wohngemeinschaften, Mutter-Kind-Wohnungen und 200 Appartements für Studierende und Auszubildende.
Im Sinne einer ausgewogenen, gerechten und gleichmäßigen Verteilung des geförderten Wohnraums, wurden die Sozialwohnungen nicht vermeintlich schlechteren Lagen zugeordnet, sondern mit den frei finanzierten Miet- und Eigentumswohnungen durchmischt. Ein funktionierendes Wohnquartier braucht Gemeinschaftseinrichtungen. Im Pergolenviertel gibt es 3 Kitas mit insgesamt 300 Plätzen, eine Mobilitätsstation mit Fahrradwerkstatt und Lademöglichkeiten für E-Bikes, ein Familien- und Nachbarschaftscafé`, Nahversorgungseinrichtungen, Einkaufsmöglichkeiten u.a. einen Hofladen am zentralen Loki-Schmidt-Platz, ein Schwimmbad, eine Tagesstätte für Menschen mit Behinderung, Gemeinschafts- und Veranstaltungsräume. Ein Quartiersmanagement und verschiedene soziale Träger und Vereine sorgen dafür, dass das alles nach dem Einzug der Bewohner gut funktioniert.
„Wohnst du noch oder lebst du schon?“
Ein ZUHAUSE ergibt sich nicht allein aus Größe und Ausstattung der individuellen Behausung. Die eigene Wohnung ist immer eingebettet in ihre gemeinschaftliche Umgebung. Eine teure Adresse ist keinesfalls eine Garantie für ein gutes Wohnumfeld.
Die besondere Qualität des Pergolenviertels ergibt sich aus der Summe aller das Zusammenleben seiner Bewohner bestimmenden Faktoren. Aus anfänglich vollkommen unterschiedlichen Interessen von Kleingärtnern und Stadtplanern führte ein auf offenen Dialog angelegter Prozess zu gegenseitigem Verstehen.
Viele der heutigen Bewohner und der im Quartier weiterhin ansässigen Kleingärtner haben sich in Workshops, Diskussionsforen und Arbeitsgruppen mit Anregungen, Wünschen und Vorschlägen eingebracht. Sie leben nicht nur im Pergolenviertel, sie identifizieren sich mit ihrem Quartier. Genau das ist der richtungsweisend beispielhafte Ansatz für eine auf Respekt und gegenseitiges Verständnis gründende Planungskultur, die im Geiste des Miteinanders ein lebens- und liebenswertes Umfeld erschafft und erhält und sich damit ganz praktisch und lebensnah einem konfliktbelasteten und oftmals dysfunktional erscheinenden Gemeinwesen entschlossen und wirkungsvoll entgegenstellt.
Im Pergolenviertel braucht man eigentlich nicht unbedingt ein eigenes Auto. Die Anbindung an den ÖPNV mit den S-Bahn-Stationen Rübenkamp und Alte Wöhr, die exzellenten, in das Hamburger Radwegenetz integrierten Fahrradwege und Carsharing Angebote machen es für viele Bewohner verzichtbar. Die wenigen Stellplätze im Quartier sind Paketboten, Versorgungsdiensten und Besuchern vorbehalten.
Auch Natur- und Artenschutz waren von Anfang an besonders wichtig. Überall gab es Nistkästen und Vogelhäuschen. In den Kleingärten, besonders denen mit Gartenteichen, hatten sich kleine Biotope mit Fröschen, Lurchen und manch seltenem Kleingetier entwickelt. Das Team einer ökologischen Baubegleitung krabbelte vor Baubeginn durch jeden einzelnen Kleingarten und fischte mit Keschern nach Goldfischen und Kröten. Auch Fledermäuse wurden umquartiert.
Von ursprünglich 317 Kleingärten blieben 171 im Pergolenviertel. Aber auch diese wurden auf dem Areal neu verteilt.
Wie konnte das Alles trotz divergierender Partikularinteressen einer individualisierten Gesellschaft, im Marktumfeld einer oft gewinnorientierten Wohnungswirtschaft und im Dickicht verwaltungsrechtlicher und baufachlicher Regelwerke gelingen? Da fällt mir der U-Bootkapitän im legendären Film „Das Boot“ von Wolfgang Petersen ein: „Gute Leute muss man haben.“ Auch hier gibt es eine interessante Parallele zur Zeit von Schumacher und Oelsner: Nicht ein großer Projektsteuerer mit PR- und Vermarktungsabteilung hielt die Zügel bei Planung und Umsetzung des Pergolenviertels in der Hand. Im Kern war ein relativ kleiner Kreis engagierter Kolleginnen und Kollegen im Bezirksamt Nord und im LIG, dem Landesbetrieb Immobilienmanagement und Grundvermögen, mit sanfter aber entschlossener Hartnäckigkeit am Werk. Das Ziel fest im Blick wurde Kurs gehalten.
Es brauchte einen langen Atem bis das Pergolenviertel Gestalt annahm. Seit Planungsbeginn im Jahr 2010 sind 13 Jahre vergangen. Bis zur vollständigen Fertigstellung dauert es wohl noch bis 2025.
Aber: Beharrlichkeit und Ausdauer haben sich schon jetzt gelohnt!
Der AIV-Hamburg verleiht dem Pergolenviertel heute den Sonderpreis für Städtebau und Freiflächenplanung. Die Mitglieder der Jury haben das Quartier in den vergangenen zwei Jahren mehrfach besucht und waren sich schnell einig: Nicht einzelne Bauwerke, so qualitätsvoll sie auch sein mögen, prägen und bestimmen den Charakter des Pergolenviertels.
Es ist das große Ganze, in das sich alles fügt und in dem alles wirkt und besteht.